Warum Crunches bei einer Rektusdiastase nicht helfen
„Stimmt es eigentlich, dass ich kein Bauchmuskeltraining nach der Geburt machen darf?“ „Oder besser nur die schräge, anstatt die grade Bauchmuskulatur trainieren sollte?“ Einer der häufigsten Fragen, die sich Frauen nach der Geburt stellen. Denn beim Stichwort Rektusdiastase besteht berechtigterweise oft die Sorge, dass diese womöglich durch ein falsches Training noch schlechter werden könnte. Was wirklich hilft bei einer Rektusdiastase und wie es mit dem Bauchmuskeltraining aussieht, dass erfährst Du in diesem Blogartikel von unserer Expertin Katrin Rey. Sie ist gelernte Physiotherapeutin mit spziellem Schwerpunkt auf eine ganzheitliche Rektusdiastasenbehandlung.
Eines der Themen, die uns Frauen im Zusammenhang mit Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett besonders beschäftigen, ist neben der Rückbildung des Bauches die Rektusdiastase. In vielen Fällen verläuft die Rückbildung schleppend und manchmal sogar gefühlt gar nicht. Vielleicht findest Du Dich in diesen Zeilen wieder, weil Du Dich selbst bereits insgeheim fragst, was mit Deinem Bauch los sein könnte. Vielleicht hast Du bereits eine kleine Reise hinter Dir: Von Deiner:m behandelnden Gynäkolog:In in den Rückbildungskurs, zurück in die Arztpraxis, von dort zur Physiotherapie, gegebenenfalls mit Abstechern zur Osteopathie oder ins Fitnessstudio. Vielleicht wurde Dir eine Rektusdiastase diagnostiziert, viele bekommen direkt die Überweisung in die Chirurgie oder googeln sich auf der Suche nach Antworten und Ratschlägen die Finger wund.
Die häufigsten Informationen in diesem Zusammenhang lauten:
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Bauchmuskeltraining
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Keine Belastung des geraden Bauchmuskels
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Diagonale Crunches, damit sich die Rektusdiastase schließt
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Bauchmuskeltraining oder -aktivität komplett vermeiden
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Abwarten
Der nächste Weg führt Dich also ins Fitnessstudio oder in entsprechende Kurse, die den Fokus auf die Kräftigung der Bauchmuskeln legen. Leider sind Frust und Überraschung jedoch oft groß, weil sich die Mühe nicht auszuzahlen scheint oder der Bauch trotz des intensiven Trainings sogar noch größer wird. In vielen Fällen kommen Beschwerden im Beckenboden dazu, häufig auch im Lendenbereich.
Leider sind Frust und Überraschung jedoch oft groß, weil sich die Mühe nicht auszuzahlen scheint oder der Bauch trotz des intensiven Trainings sogar noch größer wird.
Doch warum ist das so?
Für die Beantwortung dieser Frage möchte ich auf gleich drei Themenbereiche eingehen, die im Konflikt miteinander stehen. Für die Betrachtung und das Verständnis möchte ich ein wenig ausholen. Ich werde mich bemühen, dabei nicht zu sehr ins trockene Fachjargon abzudriften.
Die Konfliktbereiche sind:
- Wie die Fitnessindustrie sich ein Muskeltraining vorstellt
- Wie die Natur sich unser Muskelzusammenspiel vorstellt
- Was der Transversusmuskel damit zu tun hat
Wenn wir von „Bauchmuskeltraining“ sprechen, denken wir in der Regel als aller erstes an Crunches. Crunches haben ihren Ursprung in der modernen Fitnessindustrie der amerikanischen 70ger und 80ger Jahre. Sie gehören zu den Übungen, die wir als „klassisches Bauchmuskeltraining“ ansehen.
Der Gedanke, der diesem klassischen Bauchmuskeltraining zu Grunde liegt, lautet: Um einen Muskel zu kräftigen muss er verkürzt werden. Anders ausgedrückt: Ansatz und Ursprung nähern sich an. Daher kennen wir in erster Linie Bauchübungen, bei denen entweder der Brustkorb zum Becken bewegt wird oder das Becken in Richtung Brustkorb. In beiden Fällen wird die Wirbelsäule rund, der Bauch wird also „angenähert“ und wir spüren nach einigen Wiederholungen das erwünschte Brennen durch Ermüdung. Während dieses Prinzip auf die meisten Muskeln im menschlichen Körper übertragbar ist, bildet die Bauchwand jedoch eine Ausnahme.
Die Bauchmuskeln sind für die Aufrichtung gemacht – nicht für die Krümmung.
Die Bauchwand besteht aus drei übereinander liegenden Muskelschichten. Die äußerste Schicht bildet der gerade Bauchmuskel. Darunter liegen die schrägen Bauchmuskeln. In der Tiefe liegt der quer verlaufende, große Korsettmuskel (Transversusmuskel).
Vielleicht kannst Du nun schon erahnen, dass das Prinzip der Annäherung hier gar nicht so einfach anzuwenden ist, weil so viele Muskelfasern in unterschiedliche Richtungen verlaufen (gerade, schräg, quer). Isoliert betrachtet hat jeder Muskel zwar eine eigene Funktion, doch die eigentliche Magie der Bauchwand besteht vor allem darin, dass alle Bauchmuskeln gemeinsam und gleichzeitig nach hinten (also zur Wirbelsäule hin) arbeiten. Nicht in die Krümmung. Gemeinsam mit dem Beckenboden und den Hüftstabilisatoren geben sie uns das, was wir für ein Leben auf zwei Beinen benötigen: Aufrichtung und Stabilität. Sie bilden sozusagen die vordere Stütze für die Wirbelsäule und sie schützen und stützen die Organe. Voraussetzung für eine gute Bauchwandfunktion ist jedoch, dass auch wirklich jeder dieser Muskeln seinen aktiven Teil beiträgt, so dass eine harmonische Teamarbeit entstehen kann.
Isoliert betrachtet hat jeder Muskel zwar eine eigene Funktion, doch die eigentliche Magie der Bauchwand besteht vor allem darin, dass alle Bauchmuskeln gemeinsam und gleichzeitig nach hinten (also zur Wirbelsäule hin) arbeiten.
Das Fundament für Deine Kraft im Rumpf ist der Korsettmuskel (Transversusmuskel). Dieser ist in der Aufrichtung am aktivsten, dort kann er sein volles Potenzial entfalten. Ist die Wirbelsäule gekrümmt, trägt er nicht mehr viel zum Teamwork bei. Dies bewirkt, dass sich der Bauch aufgrund der Druck-Umverteilung im Innern nach vorne wölbt, worunter auch die Bandscheiben und der Beckenboden leiden. Da der Transversusmuskel für ein Leben in der Aufrichtung „designed“ wurde, ist es zudem um einiges schwerer, ihn in der Rückenlage zu finden und zu aktivieren. Beim Crunch, wie auch generell bei klassischem Bauchmuskeltraining, befinden wir uns typischerweise in Rückenlage und arbeiten dazu auch noch gegen die Schwerkraft.
Das Bindegewebe wird in die Breite gedehnt – der Rumpf wird geschwächt
Alle Bauchmuskeln haben die Besonderheit, daß sie in der Mitte der Bauchwand durch Bindegewebe miteinander verbunden sind. Anders ausgedrückt hält das Bindegewebe die zwei Bauchhälften zusammen. Während sich nun beim Crunch die Bauchmuskeln anspannen und verkürzen, reagiert das Bindegewebe anders: Es wird durch die verringerte Aktivität des Korsettmuskels und dem dadurch entstehenden Druck gegen die Bauchwand in die Breite gedehnt. Durch steigende Intensität und Wiederholungsfrequenz wird das Bindegewebe auf Dauer geschwächt und wölbt sich im Laufe der Zeit nach vorne. Anfangs entstehen kleine Mikro-Risse, mit steigernder Intensität und Wiederholungsfrequenz können Crunches, Klappmesser & Co. jedoch schließlich zu einer Rektusdiastase führen oder eine bereits bestehende Rektusdiastase vergrößern.
Überdehntes Bindegewebe schwächt den Rumpf. Da wir Frauen von Haus aus aufgrund unserer Hormone und unseres Zyklus schwächeres Bindegewebe haben als Männer, sind wir häufiger betroffen. Während einer Schwangerschaft, nach einer Geburt und während der Stillzeit trägt unter anderem das Hormon Relaxin dazu bei, dass das Bindegewebe noch anfälliger wird.
…mit steigernder Intensität und Wiederholungsfrequenz können Crunches, Klappmesser & Co. jedoch schließlich zu einer Rektusdiastase führen oder eine bereits bestehende Rektusdiastase vergrößern.
Soll ich nur die schräge Bauchmuskulatur trainieren?
Der Mythos, dass diagonale Crunches eine bestehende Rektusdiastase schließen, hält sich nach wie vor hartnäckig. Mit dem heutigen Wissen, daß die schrägen Bauchmuskeln NICHT über die Körpermitte hinweg auf die gegenüberliegende Seite ziehen sondern am geraden Bauchmuskel ansetzen und in das Bindegewebe einstrahlen, können wir davon ausgehen, dass ein diagonaler Crunch eine Rektusdiastase eher zusätzlich auseinander zieht als schließt.
Abschließend kann man also sagen, dass Crunches und „klassisches Bauchmuskeltraining“ inklusive ihrer vielen Wiederholungen nicht das fördern, was wir für eine optimale Funktion im Alltag tatsächlich benötigen. Mittlerweile gibt es gute Ansätze und geeignete Alternativen (z.B. aus dem Pilates, sowie von modernen Anbietern für Rückbildungsprogramme), die den Rumpf kräftigen ohne ihn dabei zu krümmen. Zudem muss ein gutes Bauchmuskeltraining auch nicht zwingend aus der Rückenlage heraus stattfinden.
Ich möchte nicht unerwähnt lassen, dass das Thema „Crunch – ja oder nein“ in der Wissenschaft sehr kontrovers diskutiert wird und es deshalb natürlich auch Fürsprecher gibt. Wie immer ist es wichtig, Themen wie diese sehr differenziert zu betrachten. Ob ein Crunch nun schädlich ist oder nicht, hängt nicht allein von der Übung an sich ab, sondern vor allem von der Ausführung. Wie bereits oben erwähnt, ist es eine wichtige Grundvoraussetzung, dass alle Bauchmuskeln gut ansteuerbar, kräftig und im Einklang mit der Bewegung sind. Da wir jedoch in einer vornehmlich sitzenden Kultur leben, können wir davon ausgehen, daß viele Menschen allein durch zu wenig Aktivität bereits von einer Dysfunktion oder gar einer Rektusdiastase betroffen sind, ohne jemals schwanger gewesen zu sein. Nach einer Schwangerschaft und bei bestehenden Rektusdiastasen befinden wir uns jedoch ganz besonders in einem muskulären Ungleichgewicht, begleitet von hormonell und mechanisch beeinflussten Strukturen im Bauch- und Beckenbereich. Die Wahrscheinlichkeit, dass klassisches Bauchmuskeltraining in diesen Lebensphasen förderlich ist, schätzen wir Fachpersonen deshalb als sehr gering ein und erarbeiten daher lieber ganzheitliche und individuell angepasste Alternativen.
Deine Katrin Rey
Rieke war übrigens bei Katrin in der Praxis und hat mal auf ihren Bauch schauen lassen. Dich interessiert, was dabei herausgekommen ist?
Dann hör Dir unsere gemeinsame Podcastfolge an!
Katrin Rey wohnt mit ihrer Familie in Frankfurt und ist Physiotherapeutin mit besonderem Schwerpunkt auf ganzheitliche Rektusdiastasen-gesundheit. Ihre Mission ist es Frauen und Müttern dabei zu helfen ihre Körpermitte wiederzufinden und die Rektusdiastase ganzheitlich zu behandeln!
Mehr Informationen zur ihrem Expertenwissen und Angebot:
Homepage: www.tummytalk.de
Instagram: @tummytalk