Geschwisterkrise – wenn das kleine Kind zum Großen wird
Mit der Freude einer neuen Schwangerschaft kommen auch schnell die Sorgen und Gedanken um das große Kind hinzu. Ein weiteres Kind heißt, weniger Aufmerksamkeit, weniger Zeit für das andere Kind. Was wird das wohl für die Beziehung zum Erstgeborenen Kind bedeuten und wie wird es das Verarbeiten. Viele Gedanken kreisen im Kopf herum und ist das Baby erstmal da muss jeder seinen Platz neu finden. Nicht immer einfach, vor allem für das Kind. Eifersucht und Wutanfälle, Zurückgezogenheit oder Anhänglichkeit, eine Geschwisterkrise hat viele Gesichter und ist nicht immer gleich zu erkennen. In diesem Blogartikel schreibt die Familienbegleiterin und Expertin für Kleinkindentwicklung Katrin Kretschmer, wie Du eine Geschwisterkrise erkennst und was Du tun kannst, um für dien Kind bestmöglich da zu sein.

Die Schwangerschaft eines zweiten Kindes ist meist ganz anders als die Erste. Neben einem Kleinkind läuft doch vieles nebenbei und nicht mehr ganz so bewusst. Du machst dir wahrscheinlich auch weniger Gedanken um die richtige Stramplergröße und die Windelmarke, dafür haben sich ganz neue Themen eingeschlichen:
Wie wird mein großes Kind das verkraften? Wird es das Baby lieben? Oder erwarten mich dramatische Eifersuchtszenen? Wie bringe ich eigentlich zwei Kinder ins Bett und wie soll ich spielen und stillen gleichzeitig?
Diese Sorgen sind auch nicht ganz unberechtigt, denn mehr Kinder bedeutet auch immer mehr Bedürfnisse die unter einen Hut zu bringen sind. Und das ist wirklich nicht leicht.

Oft bekommen Eltern dann zu hören, sie sollten das erste Kind doch schon in der Schwangerschaft daran gewöhnen, nicht mehr alles sofort zu bekommen. Sollten es darauf vorbereiten, nicht mehr die Nr. 1 zu sein. Und ich frage mich immer wieder, wie man darauf kommen kann. Wenn ich einen Vortrag vor großem Publikum halten muss und aufgeregt bin, bereite ich mich bestimmt nicht mit Schlafentzug darauf vor, sondern ich sorge dafür, dass es mir am Tag X besonders gut geht.
Und genau das solltet ihr auch mit eurem Erstgeborenen tun. Nochmal richtig in die Bindung investieren. Beobachten, welche Stufe der Bindung grad gut funktioniert, damit ihr das im Wochenbett und der ersten schwierigen Zeit nutzen könnt. Nochmal gemeinsam Zeit tanken, Erinnerungen schaffen und das Kind eng an euch binden. Ihr dürft, ihr solltet sogar eurem Kind die Bedürfnisse erfüllen, denn nur das sorgt für das entsprechende Vertrauen, was es in der nächsten Zeit braucht.
Wenn ich einen Vortrag vor großem Publikum halten muss und aufgeregt bin, bereite ich mich bestimmt nicht mit Schlafentzug darauf vor, sondern ich sorge dafür, dass es mir am Tag X besonders gut geht.
Dann kommt der Tag auf den alle gewartet haben. Die Geburt. Und damit all die Momente, von denen du geträumt hast- das erste Kennenlernen. Und bei vielen Familien kann man die Steine förmlich purzeln hören, wenn die große Schwester oder der große Bruder stolz, liebevoll, berührt ist. Keine Ablehnung oder Eifersucht zeigt. Was ein Glück. Keine Entthronung in Sicht. Und das ist wunderbar, ihr solltet diese Momente unbedingt frei von Sorgen genießen. Surft diese wunderbare Oxytocinwelle, kuschelt, weint und schießt Fotos von all diesen Momenten.

Und wenn ihr dann im Wochenbett angekommen seid, habe ich noch einen wichtigen Tipp für euch:
Ich warne nämlich davor, das Thema nachgeburtliche Geschwisterkrise zu vergessen. Beobachtet eure Kinder genau- denn sehr häufig erkennen wir die Anzeichen erst später. Und nicht immer sind es die, die wir von Erzählungen kennen.Provokationen, Aggressionen, Wut- ja das wäre eindeutig. Aber nicht immer ist es so leicht. Andere typische Anzeichen wären eine Regression, zum Beispiel möchte euer erstes Kind wieder gefüttert oder angezogen werden, spricht in Babysprache oder möchte ständig getragen werden. Achtsam hinschauen solltet ihr auch beim Fingerknibbeln, Nägelkauen, T-Shirt im Mund oder anderen Regulationsstrategien. Einige Kinder ziehen sich auch zurück, werden sehr angepasst, möchten ständig Harmonie erzeugen und sind furchtbar sympathisch. Ganz nett eigentlich, sollte euch aber aufhorchen lassen. All das sind Zeichen, dass euer Kind gerade verarbeitet, dass es nun einen Menschen mehr in eurer Familie gibt. Es fragt sich „Wo ist denn nun mein Platz hier?“ „Werde ich immer noch geliebt?“ „Bin ich euch noch wichtig?“.
Ihr braucht nun kein schlechtes Gewissen zu entwickeln oder in Panik zu verfallen- all das ist ein völlig natürlicher Prozess. Das gehört dazu. Ist normal. Der Lauf des Lebens. Und mit eurer Hilfe kann euer Kind das auch gut verarbeiten.

Das gehört dazu. Ist normal. Der Lauf des Lebens.
Die Fragen zeigen uns eigentlich schon den wesentlichen Weg: Bindung und Aufmerksamkeit sind der Schlüssel zur gemeinsamen Verarbeitung dieser Zeit.
Gar nicht so leicht, wenn plötzlich wieder ein Neugeborenes im Spiel ist oder? Glaube mir, damit bist du nicht allein. Es ist ein schwieriger Spagat, aber sicherlich wirst du mit der Zeit immer mehr Übung darin bekommen, immer sicherer und souveräner werden. Und bis dahin lebt ihr nach der Prämisse: Baby bekommt die wichtigen Grundbedürfnisse erfüllt, die Hauptaufmerksamkeit liegt aber beim großen Kind.
Nun haben wir hier immer über die Zeit nach der Geburt gesprochen. Doch ein Geschwisterkind bleibt ja weiterhin Teil des Lebens. Und es kann immer mal wieder zu Phasen kommen, in denen sich euer Kind diese Fragen stellt. Auch in 3,4,6 Jahren noch, könnt ihr immer wieder auf dem Schirm haben, ob hinter einer Zeit voller Wut oder Regression vielleicht gerade ein Geschwisterthema steckt.

Das klingt jetzt besorgniserregend? Ist es gar nicht. Im Gegenteil. Geschwister bieten das beste Lernfeld für Kinder. Eine Art Laborumgebung in der sie Emotion, Kommunikation und Verhalten üben und ausprobieren können. An ihren Geschwistern können sie lernen und sich entwickeln, wie sonst mit keinem anderen Menschen.
Auch wenn es also anstrengende oder schwierige Zeiten gibt- vergesst nicht, dass es auch die andere Seite gibt. Die vielen kleinen schönen Momente. Und die große Entwicklungschance, die in eurer Familie steckt. Ihr schenkt eurem Kind ein Geschwisterchen. Das ist wunderbar.
Viele Grüße, Deine Kati
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Katrin Kretschmer ist Sozialarbeiterin und Kleinkindexpertin, sowie Gründerin der Online Elternberatung Familienrevolution. Gemeinsam mit ihrem Team berät sie Eltern rund um Themen wie Eingewöhnung, Geschwister, Automomiephase.
Ihre Mission ist es Familien zu stärken und ein glückliches Miteinander zu schaffen!
Homepage: www.familienrevolution.de
Instagram: @familienrevolution